1. Kapitel (Los geht es)

1. Kapitel (Los geht es)

Sie hatte diesen geheimnisvollen Mann, von dem in den Höfen, Hotels und im Ort geredet wurde, nun schon einige Male gesehen. Er war nicht erfassbar. Ein Fremder in einer Gemeinschaft, die sich kannte oder ab und zu etwas vom andern wusste. Von ihm wussten sie nichts. Na gut, seit kurzem, dass er in einem Haus nicht weit vom Strand entfernt lebte. Es war ein einsam gelegenes Haus hinter den Dünen. Manchmal stieß jemand zufällig darauf. Es stand an einem Strandstück, wo sich nicht die Massen wälzten. Die Angestellten der Salinen hatten Zugang. Wanderer oder Strandläufer, die von Distanzen nicht abgeschreckt wurden, fanden hin.
Es war es nicht weit von der Stelle, wo die Rhône Vif ins Meer fand. Das war einer der einst zahlreichen Arme des Flusses. Nur wenige davon waren heute noch vorhanden. Veränderungen durch die Zeiten, entweder durch die Natur selbst herbei geführt oder durch Eingriffe der Menschen. Nicht alle Veränderungen waren schlecht, aber hier konnten sie manchmal fatale Folgen haben. Das hatte sich in der Geschichte der Camargue schon einige Male erwiesen.
„Ein Baguette bitte und … hmm … drei Croissants. Ja, die sind gut, nicht zu hell, nicht zu sehr gebacken. Oh, geben Sie mir bitte noch zwei Pain au Chocolat Maryse. Danke.“
„So gut?“
„Die sind richtig. Gut sind Sie immer bei ihnen. Ich habe es noch nie anders erlebt. Danke.“
Der Laden wirkte hell und durch die Menschen, die bedienten, auch freundlich. Sie kam gerne hierher. Die Auslagen waren ansprechend angeordnet. Da lagen Croissants neben anderen Köstlichkeiten, da lagen Flûtes und Baguettes. Farbenpracht und gute Gerüche kamen ihr entgegen, wenn sie eintrat. Sie bekam Lust einiges davon auszuprobieren. Das Lächeln der Frau hinter dem Ladentisch gab sie gerne zurück, selbst heute.
„Das freut mich zu hören.“
Einige der Dorfbewohner standen zusammen und sprachen die neusten Geschichten durch. Da war Sévérine mit ihrem eher verbissen wirkenden Gesicht, die aber eine angenehme Frau war. Bei ihr täuschte das Äußere. Dabei war Chantal, die immer viel zu berichten wusste, mit ihrem runden Mondgesicht und der allgemein runden Gemütlichkeit. Oder Claudine mit ihren sehr hellen Augen. Die fielen jedes Mal neu auf in ihrem gebräunten Gesicht. Muriel mit ihren verarbeiteten und vernarbten Händen. Über Muriel wusste sie nicht viel. Sie war die stille Zuhörerin in der Runde.
Sie trat mit ihren Schätzen aus dem Laden. Irgendwie genoss sie den Tag, obschon er mit schlechter Laune begonnen hatte. Der Ort wurde wach und war schön an so einem Morgen. Manch einer rief dem anderen die neusten Nachrichten zu. Die Stimmung war speziell. Neben einer Haustüre, an der sie vorbei kam, saß wie immer Monique und lächelte ihr freundlich zu. Sie unterhielt sich mit ihr über das Wetter und das Dorf. Wie alt Monique war wusste sie nicht. Sie musste schon sehr alt sein. Aber sie hatte sie nie übel gelaunt erlebt.
Katie liebte die Morgenstunden. Sie waren manchmal so frisch und klar, selbst wenn es später heiß und diesig werden konnte. Es war so, als sähe sie alles viel deutlicher, als nähme sie die Gerüche und Geräusche bewusster wahr. Ihr fielen in diesen Stunden Kleinigkeiten auf, die sonst in der Tagesarbeit unter gingen. Wie ein schwarz-weiß-grau gemaserter Stein am Wegrand, eine unscheinbare bläuliche Blume, ein verschnörkelter Ast an einem Baum, ein Duft aus einem Laden. Der Jasmin oder die Magnolie aus dem Garten oder das leise Rauschen des Windes in den Büschen. Es war sinnlich und tat gut. Es war ihre Heimat geworden. Sie war froh, hier zu sein und diese kleinen Dinge sehen und erleben zu können. Der Stuhl mit den alten geschnitzten Mustern, der vor der Türe stand, die Vorhänge, die aus einem Fenster wehten und lustig im Wind flatterten. Klänge des Lokalsenders, das Lachen eines Kindes. Es war schön, die Umgebung erwachen zu sehen und noch einige Zeit Ruhe für sich zu haben, bevor die Aufgaben sie erreichten. Manche Aufgaben waren außerdem in der Ruhe des Morgens besser lösbar.
Sie selbst hatte mit ihrem Anwesen Zugang zum Parkplatz neben diesem Flussarm erhalten und ihre wenigen Gäste durften die ruhigen Strände mit benutzen. Cathérine hatte eine alte kleine Mas erworben und sich eine genauso kleine Pferdemanade aufgebaut. Sie schmunzelte ob ihrer Gedankengänge. Aber es traf zu. Sie legte Baguette und Viennoiseries neben sich auf den Sitz des roten Jeeps und fuhr los. Sie lachte beim Gedanken an die Strandepisode vom frühen Morgen.
Vielleicht begann sie eines Tages mit Stieren, aber darüber wusste sie zu wenig. Eine Manade war ihr Traum gewesen. Sie ließ sich mit allem Zeit, lernte dazu. Die Zeit, die notwendig war, um es richtig zu machen. In der Saison bot sie nicht weit vom Espiguette-Strand Reitausflüge an. Dort hatten sie Unterstände gebaut, eine weite Koppel hergerichtet, eine Cabane mit Büro und Empfang sowie einer Buvette für die Kunden aufgebaut. Ihr Zuhause war die erwähnte kleine Mas geworden, gut bewohnbar und ausbaufähig.

Katie joggte morgens früh den Strand entlang. Das hatte sie heute vor ihrer Fahrt zum Bäcker getan.
Noch war der Strand leer. Es war ein frischer Morgen. Sie mochte den Strand, mochte den Anblick des Meeres – nicht unbedingt, um dazuliegen und sich bräunen zu lassen, das kam selten vor – diesen Anblick, den genoss sie. Diesen Blick in die geheimnisvollen Weiten, die Vorstellung der Tiefen, der Kräfte, der Welten, von denen man einiges wusste, aber noch lange nicht alles. Die Sicht war so klar wie sauber gewaschen. Der Nordwind wehte in sanften Böen. Das konnte er durchaus. Er musste nicht nur heftig sein, konnte schmeicheln und trösten. Er ließ hie und da kleine Sandverwehungen – Bewegungen – entstehen. Kleine widerspenstige Wirbel fegten über die Dünen. Und manchmal warfen sie ihr Sand ins Gesicht. Die Gräser duckten sich. Kleine Krabbeltiere huschten über den Sand und verschwanden in Löchern. Vögel pickten nach ihnen. Spuren von ihnen allen blieben zurück.
Der Mann kam ihr entgegen. Er schritt, er rannte nicht. Wie schon einige Male grüßte sie ihn laut und deutlich und wie jedes Mal kam nichts von ihm. Kein Ton, keinerlei Reaktion, so als wäre da nur der Wind und keine Begegnung, keine anderen Lebewesen. Unmöglich. An diesem Morgen, nach dem gestrigen Tag voller Ärger, nach einer Nacht mit zu wenig Schlaf und schlechten Träumen, mit entsprechender Laune, drehte sie sich um. Sein stumm an ihr Vorbeigehen wie an einem angeschwemmten Holzstück, ärgerte sie. Sie lief an Ort weiter und rief ihm nach: „Ist ein kleiner Gruß so schwer? Nur ein klitzekleiner? Ein Wort? Ein Brummen wenigstens? Oder haben Sie ihre Zunge beim Laufen verschluckt? Sie sind der arroganteste Mensch, der mir je begegnet ist!“
So! Dem hatte sie es gegeben. Wenigstens das, wenn schon sonst zurzeit nichts gelingen wollte. Das war natürlich Unsinn. Sie vergaß in ihrem Ärger, dass es nur ein solcher Tag inmitten vieler anderer gewesen war. So ungerecht konnte man sein. Sonst lief nämlich alles wie es sollte. Es gab keinen Grund Klagelieder anzustimmen.
Der Kerl trug immer eine Sonnenbrille. Egal ob der Tag hell oder grau war, ob es überhaupt Tag war, ob er sich draußen oder in einem Gebäude aufhielt. Sie hatte ihn schon in all diesen Situationen damit angetroffen und konnte das behaupten. Katie atmete tief ein und wieder aus, drehte sich in ihre Richtung zurück, in einem kleinen neckischen Kreis und lief weiter, lachte vor sich hin. Es hatte ihr gut getan. Sie hatte ihrem Ärger Luft gemacht und es war ihr egal, was er von ihr dachte. Wenn er überhaupt etwas dachte. Der Ärger war verschwunden, die Laune war besser und sie konnte den heutigen Tag angehen.
Gedanken stiegen in ihr hoch. Erinnerungen. Vermutungen. Fragen. Hatte sie immer mit solchen Männern zu tun? Schon einmal, in einem besonderen Sommer, war ihr so einer begegnet. Er war zwar kleiner gewesen, als dieser hier, aber anfangs war es mit ihm genauso schwierig gewesen. Er hatte etwas an sich, dass sie gleichermaßen faszinierte und ärgerte. Und genau das war schon einmal mit jemandem so gewesen.
Sie erinnerte sich an den Sommer voller Wunder.
Es war eine Weile her und doch nicht zu lange. Viel war geschehen. Sie hatte sich verändert und doch war sie immer noch Katie. Tja, sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass der Geheimnisvolle etwas von sich gab. Wirklich mit Roby vergleichbar war er nicht. Wie kam sie überhaupt darauf? Irgendwie war es, nach dem, was sie bisher erlebt hatte, nahe liegend. Und warum begegnete sie dem Mann immer wieder?

*****

“ … ich wiederhole nochmals, dass ich nichts mehr dazu zu sagen habe.“ Bei diesen Worten drehte er sich um und ging wütend und gleichzeitig gedankenverloren die Straße hinunter. Wann hörte das auf? Wann wurde ihr klar, dass es aus war? Er spürte es nur, sah es nicht. Er spürte einen Luftzug im Nacken, der nicht hin gehörte. Er versuchte sich um zu drehen … Etwas Hartes traf ihn am Kopf und er fiel zu Boden. Stechender Schmerz. Er fiel, hörte Leute aufschreien, hörte ihre böse Stimme. „Das hast du nun davon, du Mistkerl! Habe ich dich nicht, soll dich niemand kriegen.“ Noch einmal traf ihn etwas. Und wieder ein Luftzug, aber seltsam … kein weiterer Schlag?

Passanten stellten sich schützend vor ihn …
Er ging davon, merkte jedoch auf einmal, dass sich Schleier auf seine Augen legten, merkte, dass es ihm übel wurde, hielt an, setzte sich auf eine kleine Mauer, versuchte diese Empfindungen los zu werden, doch sie verstärkten sich … Alles um ihn her begann sich zu drehen, ihm wurde schwarz vor Augen. Dass er von der kleinen Mauer fiel, wusste er nicht mehr …

*****

Das erste Mal, als Katie ihn sah, saß er im Café in der Ecke – der Mann mit der Sonnenbrille. Sie sah sich nach einem freien Platz um und nur an seinem Tisch war einer frei. Sie nahm ihre Tasse vom Tresen und jonglierte sie vorsichtig bis zum Tisch, lächelte ihn an.
„Ist es erlaubt?“ Sie deutete auf den freien Platz. Ihr war, als sehe sie ein Nicken. Sie bedankte sich, setzte sich, nippte an ihrem Café und fragte höflich: „Sind Sie im Urlaub? Sie haben sich eine besondere Gegend dafür gewählt. Sie werden sehen, es ist schön hier. Auch wenn es heute leicht grau ist. Es gibt viel zu entdecken und zu erleben, wenn Sie offene Augen haben.“
Von ihm kam nichts. Er nahm die Zeitung, die auf dem Tisch lag, öffnete sie, blätterte darin, hielt sie hoch, verschanzte sich dahinter. Er machte deutlich, dass er sich nicht unterhalten wollte. Katie wurde gleich darauf in eine Unterhaltung am Nebentisch verwickelt. Es ging um Lokalgeschehen.
Kurz darauf stand er auf, legte sein Geld auf den Tisch und ging davon ohne ein Wort, ohne sich umzusehen, ohne das geringste Nicken oder kleine Zeichen. Er wollte keinen Kontakt. Sie sah ihm nach. Ein gut gewachsener Mann, mit einer nahezu perfekten Figur – wenn es das überhaupt gab – mit schwarzen Haaren. Er trug Jeans und ein Kurzarm-Shirt. Die Haut, die zu sehen war, sah gebräunt aus, wie das, was vom Gesicht sichtbar gewesen war.
„Seltsamer Kerl“, brummte einer am Nebentisch. „Geht herum, kriegt sein Maul nicht auseinander, so als wäre es zugewachsen.“

Das bestätigte sich in der Folge. Das nächste Mal traf sie ihn auf der Straße. Sie machte Besorgungen. Er kam ihr entgegen. Sie konnte es nicht lassen, lächelte und grüßte ihn freundlich. Das war hier so üblich, immerhin und sie wollte das aufrechterhalten. Er ging stumm an ihr vorbei, als existiere sie nicht, als gäbe es außer ihm niemanden weit und breit. Vielleicht war er mit seinen Gedanken weit weg und in dieser seiner Welt war tatsächlich niemand. Der Tag war hell, die Blätter der Platanen beim Platz raschelten leise. Einige Unentwegte spielten Pétanque. Andere saßen auf einer Bank und kommentierten alles, was geschah. Eine ältere Frau saß auf einem Stuhl neben ihrer Haustüre, sah zu, grüßte Vorübergehende, wechselte ein paar Worte mit denen, die kurz stehen blieben. Szenen wie aus einem Film aus der Provence, aber hier Realität, Alltag. Alles lief hier langsamer ab, als anderswo; so als wäre die Zeit irgendwann in der Vergangenheit stehen geblieben. Und vielleicht lebte er wirklich in einer ganz anderen Welt, weit ab von ihnen allen. Katie lächelte, war versöhnt. Sie mochte ihre Welt.
Ein andermal stand er in der Post direkt vor ihr in der Warteschlange. Wie meistens wollten oder mussten alle immer zur gleichen Zeit hin. Dieser Eindruck entstand. Immer wenn sie etwas brauchte, stand sie Schlange. Wenn sie einfach vorbei ging und hinein schaute, sah sie schon mal Leere und Ruhe. Es war so, eine Art Gesetz. Warum darüber ärgern? Auch diesmal hatte sie gegrüßt, als sie sich hinter ihm einreihte. Mehrstimmiges Zurück Grüßen aus der Schlange. Von ihm? Nichts. So betrachtete sie ihn unverfroren von hinten und stellte fest, dass er durchaus einen knackigen Po sein eigen nennen durfte.
Sie hoffte, wenn sie nun schon direkt hinter ihm stand, dass sie immerhin seine Stimme hören konnte, wenn er sein Anliegen vorbrachte. Aber nein, es ging absolut wortlos von seiner Seite her über die Bühne. Das war zum Verrücktwerden. Sie schüttelte erstaunt den Kopf. Das gab es doch nicht. Wie hatte er das hingekriegt? Sie musste seine Technik studieren. Es konnte manchmal von Nutzen sein, so etwas zustande zu bringen. Dann, wenn sie heiser war zum Beispiel. Sie hatte ihm jedoch schlecht über die Schulter blicken können, um zu sehen, ob er alles auf Zettel notiert hatte. Erstens war er dazu zu groß. Zweitens wäre es doch zu aufdringlich gewesen. Florence, die Frau am Schalter, sah ihr Erstaunen.
„Er spricht nie.“
„Und doch kriegt er, was er braucht. Warum stellen Sie sich nicht dumm an, wenn er etwas will, dann muss er vielleicht doch sprechen.“
„Das könnte ich einmal versuchen.“ Sie lachte.
„Ist er ein Urlauber?“
„Nein. Er lebt seit etwa 2 Monaten hier, hat eine feste Adresse. Vermutlich allein in dem Haus.“
„Im Ort?“
„Nein, nicht direkt, aber es gehört zum Ort. Das macht fünf Euro Dreißig Cathérine. Nicht weit vom Strand … bei Ihnen draußen, ja, nicht weit von Ihnen weg, wenn ich es mir genau überlege.“
„Oh, doch nicht etwa in dem Haus am Strand, das leer steht?“
„Doch. Das hinter den Dünen, sehr einsam. Für mich wäre das nichts. Es wäre mir zu einsam.“
„Schön gelegen ist es. Ich dachte nur nicht, dass es nach so langer Zeit bewohnbar ist. Gut, mit etwas handwerklichem Geschick ist es wieder herzurichten. Eine Ruine ist es nicht. Und vielleicht hat er dieses Geschick, wenn auch keine Stimme. Oder seine Ansprüche an ein Zuhause sind bescheiden.“
Daran zweifelte sie aber gleich, denn er sah gepflegt aus.
So war es ihr jedes Mal bei den zufälligen Treffen ergangen. Doch sie war nicht bereit aufzugeben und grüßte weiter, jedes Mal, hartnäckig. Sie konnte es nicht lassen. Sie blieb dabei, genauso wie er hartnäckig stumm blieb. Der Stumme mit der Sonnenbrille. Sie lachte.

„Aber Katie! Vielleicht ist er tatsächlich stumm und hat ganz schreckliche oder sehr empfindliche Augen. Oder er hat den bösen Blick und eine erschreckende Stimme und verhält sich aus Freundlichkeit so, um die arme Menschheit davor zu schützen. Ein Menschenfreund also. Und du kommst ihm so vorbei. Mädchen, was ist nur in dich gefahren. So kenne ich dich gar nicht.“
„Na klar! Susanne, du bist unmöglich! Genauso wird es sein.“
Sie lachten beide. Katie saß mit ihrer Freundin zusammen. Susanne, die geblieben war und sich in der Gegend niedergelassen hatte. Auch sie war jemand aus dem Sommer voller Wunder, jemand von damals. Im Heute geblieben.
Ihre Freundschaft hatte gehalten. Sie arbeitete bei ihr mit. Im Sommer vor allem in der Buvette und dem Empfang bei der Pferdevermietung. Den Winter durch oder wenn es einen Engpass gab oder wenn noch nicht viele Ausflüge anstanden, half sie, wo es nötig war, in der kleinen Pension der Mas oder bei administrativen Aufgaben der Manade. Überall wo sie gebraucht wurde. Sie verstanden sich gut. Susanne war Deutsche. Sie hatte aber in all den Jahren einiges an Französischem angenommen, vor allem Regionales. Sie und Gilles kamen einander allmählich näher. Nicht ausgeschlossen, dass daraus eines Tages ein Paar wurde. Noch stand das allerdings nicht fest. Wie dem auch sei. Sie sprachen natürlich gerade über den Geheimnisvollen. Es war an dem Tag der Strandepisode. Bisher hatte ihn tatsächlich niemand sprechen hören. Katie dachte nach.
„Wenn er stumm ist, muss ich mich schämen.“
„Du hast ihm das heute Morgen tatsächlich nachgerufen?“
„Ja, hab ich.“ Katie lachte wieder und sah die ersten Interessenten für einen Ausritt auf das Gelände kommen. Sie sahen sich die Pferde an, unterhielten sich untereinander, sahen sich um und schienen noch auf jemanden zu warten. Sie beobachtete gerne, stellte Verhaltensmuster fest und konnte dabei normalerweise ihre Gedanken wandern lassen.
Katie hatte heute mit Gilles zusammen die Pferde ausgesucht, die morgens eingesetzt würden. Sie hatten sie zusammen mit Michel bereit gemacht. Michel hatte altershalber seine eigene Ranch aufgegeben, half aber bei ihr mit, hatte auch dieses Gelände zur Verfügung gestellt. Den Unterstand hatten sie renoviert, die zweite Cabane gebaut. So trug er nicht mehr die ganze Verantwortung und stand doch nicht ohne Aufgabe da. Er hatte ihr beim Aufbau ihres Traumes geholfen. Er war ihr eine große Hilfe gewesen, hatte sie in alles eingeführt, ihr alles beigebracht und akzeptierte sie heute als Patronne. Er war weiterhin bereit, Ratschläge zu geben, wenn es erwünscht war. Er wusste viel über das Leben, über das Wichtige, über die Bräuche und Traditionen und über die Abläufe, über das, was hier beachtet werden musste. Sie verstand die Notwendigkeiten und lernte gerne weiter dazu. Katie wusste viel, aber noch lange nicht genug. Sie wurde immer mehr zu einer Tochter des Landes.
Michel saß drüben mit Gilles, trank sein Café, aß die Croissants, die sie mitgebracht hatte. Sie betrachtete den Platz. Er sah einladend aus. Sie war zufrieden. Die Sonnenschirme passten farblich, sie waren gelb und weiß gestreift. Die Ränder flatterten heute nur ganz leicht m Wind. Die blassgelben Tische und Stühle luden zum Verweilen. Es sah alles sauber aus.
Gilles übernahm die erste Gruppe, die sich langsam bildete. Sie selbst wollte heute die zweite übernehmen. Wenn es nötig war, etwa die Gruppe zu groß wurde oder zu viel unerfahrene Reiter dabei waren, half ihr Michel. Susanne hielt an der Buvette die Stellung.
„Mutig!“ sagte sie gerade. „Das war mutig von dir.“
„Ach was! Mit Mut hatte das wenig zu tun. Spontan vielleicht.“
„Ich finde es doch mutig. Du weißt nicht, ob er nicht aggressiv reagieren könnte.“
„Es hat mich einfach diesmal sehr geärgert, zudem hatte ich schlechte Laune, nach dem Tag gestern und einer nahezu schlaflosen Nacht. Da kam alles zusammen. Und Paff, er hatte es!“
„Stimmt. Gestern war kein guter Tag. Bloß schwierige Kunden, wie verhext, beinahe keine angenehmen. Und dazu auch noch Michels Suff-Tag.“
Sie seufzte und sah zu den beiden Männern. „Mir scheint, diese Tage nehmen zu.“
„Ich frage mich, was mit ihm los ist.“
„Vielleicht müssen wir in der Saison noch einen Helfer einstellen, damit wir damit keine zu großen Probleme bekommen. Da kam dir wohl sein unmögliches Verhalten heute Morgen gerade recht.“
„Erfasst. Genauso war es. Ich weiß auch nicht … der Mann hat eine Ausstrahlung, eine starke Präsenz, die mich erstaunt.“
„Aha.“
„Da kann er doch nicht erwarten, nicht beachtet zu werden. Du spürst es, wenn er in der Nähe ist. Verrückt ist das.“
„Oder nur du?“
„Was? Verrückt?“
„Nein. Nur du spürst es … Mensch Katie, du hast mich schon verstanden.“
„Nein. Frag dich rum. Du wirst …“
„Ha! Das kommt mir verflixt bekannt vor.“
„Hör auf. Ich weiß, worauf du ansprichst.“ Katie wollte es nicht, obwohl sie selbst gleiche Gedanken gewälzt hatte. „Nein, das kannst du nicht vergleichen.“
„Nicht? Kann ich wohl. Ich vermute, du hast auch daran gedacht. Ich sehe es dir an und kenne dich.“
Sie schaute zweifelnd und leicht spöttisch, wie es ihre Art war. Susanne hatte sich nicht wesentlich verändert seit damals. Sie war noch immer direkt und hatte ihren trockenen Humor behalten, aber auch ihre leichte Boshaftigkeit. Nie zu stark, dass sie unnötig verletzte, aber treffend auf den Punkt zielend. Bei ihr wusste sie immer, woran sie war. Kein Versteckspiel. Sie konnte grob sein. Wehe, jemand kam ihr dumm vorbei oder ärgerte ihre Freunde. Das war noch schlimmer. Diejenigen konnten allerhand erleben.
„Überlege doch mal, Susanne, Roby hatte eine liebenswerte … Art … ja, die hatte er … trotz …“
„Aha! Trotz …“
Sie hielt inne. Das entsprach nicht ganz den Tatsachen. Begann sie ihn zu idealisieren? Roby war auch aggressiv gewesen, kalt, hart, unnahbar, ungestüm, wütend. Besonders wenn er meinte, sich und andere schützen zu müssen oder wenn ihm etwas nicht passte oder er gedrängt wurde.
Katie sah abwesend zu, wie sich Gilles um die Familie kümmerte und wie ein weiteres Auto einparkte. Sie schüttelte den Kopf, erschauerte innerlich, denn sie fand, es könne nicht sein und fragte sich gleichzeitig, ob es vielleicht doch so war. Nein. „Das kann man nicht vergleichen. Du irrst dich.“
„Sag mir, macht er dich nicht neugierig?“
„Doch.“
„Zieht er dich an?“
„Vielleicht.“
„Ausweichmanöver? Verstehe. Sieht er nicht gut aus?“
„Susanne! Hast du ihn denn noch nie gesehen? Dann bist du weit herum die einzige.“
„Darum geht es nicht. Ich frage dich, was du denkst.“
„Doch. Ja doch, auf seine Art. Ja. Er sieht sogar sehr gut aus. Aber was bringt das, wenn er sonst ein Idiot ist?“
„Ist der das?“
„Weiß ich doch nicht. Sieht eigentlich nicht danach aus. Aber …“
„Aha.“
„Und?“
„Begegnest du ihm nicht erstaunlich oft?“
„Doch. Aber ich suche es nicht. Zufall, sonst nichts.“
„Aha.“
„Aha, aha, aha … was soll das werden? Kleiner Wortschatz heute?“
„Nein. Analyse der Situation. Siehst du. Ich sehe es. Du weißt es. Wenn ich dich betrachte, sehe ich, was mit dir geschieht, wenn du von ihm erzählst.“
Katie produzierte in der Zwischenzeit Zornesfalten. „Ach nee! Was denn?“
„Spiel mir nicht die Unschuld vom Lande vor.“
„Ich bin im Lande.“
„Das sind reine Feststellungen. Schlüsse daraus kannst du selbst ziehen. Ich sehe dein offensichtliches Interesse.“
Sie stand ärgerlich auf. Auch wenn sie wusste, dass Susanne in allem, was sie vorbrachte, nicht Unrecht hatte, ärgerte es sie. Katie wollte diese Schlüsse nicht ziehen. „Ich habe zu tun.“
„Wo?“
Susanne lachte sie aus.
„Du stellst Fragen? Dort. Und du auch. Da will jemand etwas trinken. Kümmere dich ums Geschäft, anstatt mich zu analysieren.“
Sie ging an ihre vielfältigen Tagesaufgaben, wollte nicht mehr über das Thema nachdenken. Sie hörte Susannes Lachen. Ihr konnte man nichts vormachen. Ganz falsch war das alles nicht. Unmöglich war es trotzdem. Und weiter verfolgen wollte sie das erst recht nicht.

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